2013-10 Leitartikel

Jo Soppa - Chefredakteur MO

Jo Soppa

Vorbildlich
Glemseck 101. So heißt der Glücksfall für die europäische Motorradszene

In Deutschland hört man das nicht gerne: Die Motorisierung begann mit dem Motorrad, nicht mit dem Auto. Und das erste Auto des kleinen Mannes waren weder das Goggomobil noch der VW Käfer, sondern der Beiwagen am Motorrad. Die Zweiradszene ist die vitale Pionierlandschaft der technischen Entwicklungen, und es überrascht bei genauer Betrachtung nicht, dass sich daran bis heute nichts geändert hat.
Während die Autobranche seit Jahren krampfhaft versucht, ihre technisch völlig überladenen Konzeptionen halbwegs zukunftsfähig zu machen, ist das Elektrozweirad schon längst als funktionstüchtige Realität millionenfach im Alltag angekommen. Zugegeben, diese asketischen Elektro-Fahrräder finden die wenigsten Big Biker besonders prickelnd. Seit den sechziger Jahren wird die deutsche Motorrad-Szene in erster Linie von Spaßfaktor und persönlichem Lustgewinn befeuert. Seit aber eine unselige Allianz aus Politik und Geldwirtschaft immer höhere Schuldenberge aufhäuft und alle darauf hoffen, dieser gewaltige Finanzturm möge an einem möglichst fernen Sankt Nimmerleinstag an seinem Sockel abbrechen und im Weltall des frommen Wunschdenkens verschwinden, ist vielen klar geworden, dass Gigantomanie eine sehr dunkle Kehrseite hat.
Diese Erkenntnis ist auch bei den Herstellern angekommen. Nachdem es im Motorradbau ebenfalls immer gemäß der alten Formel „größer, schneller und weiter” voran ging, ist in letzter Zeit eine deutliche Tendenz in Richtung „gesunde Mitte” erkennbar. Neu ist das nicht. Motorräder, die eine attraktive Mischung aus Kosten und Fahrfreude darstellen, sind seit jeher Renner im Verkauf. Erstaunlicherweise schien diese Sichtweise im Zuge einer zunehmenden Spezialisierung und damit Radikalisierung der Konzepte etwas aus dem Fokus geraten zu sein. Doch inzwischen gibt es nicht nur eine Kawasaki ER-6, Yamaha XJ6, BMW F 800 oder Suzuki Gladius, sondern auch attraktive Offerten wie KTM Duke 390 oder Honda CB 500 R. Motorräder, die in der preislichen Größenordnung von 5000 Euro angesiedelt sind und einmal mehr beweisen, dass Gutes nicht teuer erkauft sein muss. Den großen Test der neuen Honda CB 500 R finden Sie in dieser MO-Ausgabe ab Seite 50.
Bewegung ist auch in die Imagekultur rund ums Motorrad gekommen. Nachdem Marketing-Experten jahrelang nichts Besseres wussten, als den Handel aus den Innenstadtlagen auf die grüne Wiese in möglichst sterile Neubauten abzudrängen, setzt sich so langsam die Erkenntnis durch, dass es keine schlechte Idee wäre, das Motorradthema wieder näher an die Menschen heranzutragen.
Früher war der lokale Rennsport eine Plattform für Motorradwerbung. Doch die kleinen Veranstaltungen, wo man als neugieriger Normalo für kleines Eintrittsgeld Rennluft schnuppern und die Faszination Motorradtechnik erleben konnte, wurden von Umweltaktivisten und sonstigen Umerziehern abgewürgt. Die Motorrad-Hersteller flüchteten in hässliche und abgelegene Großarenen, die auf unbedarfte Interessierte den Charme einer Haftanstalt ausüben und dazu nur über teures Geld zu betreten sind. Positive Vibes sehen anders aus.
Unglaublich positive Schwingungen konnte indes jeder Neugierige spüren, der am ersten September-Wochenende bei freiem Eintritt zum Leonberger-Glemseck – gelegen an der ehemaligen Solitude-Rennpiste – pilgerte. Durch eine fast schon wundersam zu nennende Verkettung glücklicher Umstände wurde dort zum achten Mal das Glemseck 101-Festival zelebriert.
Ausgehend von einem Treffen für Cafe Racer, hat sich daraus ein Motorrad-Meeting für alle entwickelt, bei dem eines ganz besonders stimmt: der Motorradspirit. Aus diesem Grund waren auch Markengrößen wie Suzuki, Vespa, Triumph, BMW, Harley, Royal Enfield, KTM, Norton, Victory, Kawasaki, Metzeler und Nolan-Helme „am Eck”. Anfassen, schauen, staunen, riechen, ausprobieren. So muss das sein. Für mich ist Glemseck 101 die wichtigste Motorradveranstaltung in Europa. Denn sie ist schon jetzt das neue Leuchtfeuer und hat überragende Signalwirkung. Gute 50000 Motorrad-Interessierte waren dabei. Lesen Sie unseren großen Report ab Seite 86.

Viel Vergnügen mit Ihrer Oktober-MO wünscht

Jo Soppa (Chefredakteur)
 

zurück zur MO 10/2013