Text: Helmut Heusler, Fotos: Heusler, Archiv, erschienen in MO 1/08
Liest man Einfahrvorschriften von modernen Motorradmotoren, fühlt man sich teilweise in die fünfziger Jahre versetzt. Ginge es nach den offiziellen Vorstellungen der Hersteller, sollten Motoren auch heute noch eingestreichelt und nicht eingefahren werden. Lesen Sie, worauf es beim Einfahren wirklich ankommt.
Früher war nicht alles besser. Einfahren zum Beispiel erforderte enormes Fingerspitzengefühl. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden Autos und Motorräder in aufwändigen Prozeduren auf der Straße eingefahren, große Firmen besaßen sogar eine Einfahrbahn auf dem Werksgelände. Damals gab es den Beruf des Einfahrers, das waren Leute mit besonders feinem Gehör und Popometer, die jede ungewöhnliche Lebensäußerung des Motors heraushörten. In speziellen Einfahrprogrammen wurden Kolben, Kolbenringe, Zylinder, Ventile und Ventilsitze an zunehmend steigende Belastung gewöhnt.
Damit wurde zunächst das Gröbste des Einfahrprozesses erledigt. Auch danach musste der Kunde noch sehr lange strenge Einfahrvorschriften einhalten, um dem Motor die Anlagen für ausreichende Leistung, geringen Ölverbrauch und eine lange Lebensdauer mitzugeben. Schaut man sich zerlegte Motoren dieser Ära an, wird auch der Grund für die strengen Einfahrvorschriften klar. Im Vergleich zu modernen Motoren waren die Kolbenringe mehr als doppelt so hoch, sehr steif und besaßen ein zu geringes Formfüllvermögen, um Unrundheiten und Konizitäten der Zylinderlaufbahn auszugleichen. Auch verschleißfeste Beschichtungen aus Molybdän oder Hartchrom waren noch sehr selten.
Gleichzeitig waren die Formtreue der Zylinder und die Qualität der Honung keineswegs optimal. Wer einen solchen Motor sofort hart hernahm, erzeugte zumindest hässliche Brandspuren an den Kolbenringen. In schlimmen Fällen wurde der Kolben lokal so heiß, dass er fraß. Eine weitere heikle Baugruppe war der Ventiltrieb. Nocken und Stößellaufflächen waren weder vom Werkstoff noch von der Bearbeitung annähernd auf dem Stand wie heute. Auch die Abdichtung der Ventilsitze ließ häufig zu wünschen übrig. Nicht zu vergessen natürlich die bei weitem schlechtere Ölqualität dieser Zeit, speziell bei den Punkten Scherstabilität und Hochdruckbelastbarkeit. Weil die verwendeten Werkstoffe an den heiklen Reibstellen im Vergleich zu heutigen Motoren so weich und wenig verschleißfest waren, mussten mit einem sinnvollen Einfahrprozess die nicht optimal bearbeiteten Oberflächen langsam aufeinander eingerieben werden. Man konnte also dem Motor in den ersten Lebensstunden seines Daseins viel Gutes tun oder frühzeitig die Wurzel zu seinem vorzeitigen Ableben legen.
Einfahren heute
Fünfzig Jahre später und mit den reichhaltigen Erkenntnissen aus milliardenschwerer Forschung sieht die Situation heute erheblich entspannter aus. So funktionieren heutige Kolbenringe völlig anders: Sie sind relativ elastisch und arbeiten mit viel geringerer Vorspannung als früher. Erst bei hohem Zylinderdruck, also bei hoher Last werden sie durch den Gasdruck zusätzlich an die Zylinderwand angepresst. Auch andere ehemalige Achillesfersen des Motors, nämlich Kolben, Honqualität, Nocken, Stößel und Ventilsitze sind trotz der hohen Beanspruchung in modernen Motoren extrem robust. Das gilt vor allem dann, wenn es sich um Großserienmotoren mit entsprechendem Know-How des Herstellers in Fertigung und Entwicklung handelt. Diese Motoren werden bereits in der Entwicklung standardisierten Grenz- und Missbrauchstests unterzogen, bei denen beispielsweise die Kolben und Ringe ihre Fresssicherheit unter Beweis stellen müssen. Als Gegenmaßnahme sind die Kolben häufig mit einer aufgedruckten Graphitschicht am Schaft versehen. Einen solchen Motor werden Sie selbst durch brutalste Behandlung nicht zum Fressen bringen, wenn nur genügend Kühlflüssigkeit und Öl drin ist.
Zeitvergleich: Der linke Kolben stammt aus den fünfziger Jahren, der rechte ist aus aktueller Fertigung. Nicht nur der Kolben, auch die Ringe sind filigraner. |
Etwas mehr Vorsicht ist bei Exoten und Kleinserienaggregaten angebracht. Mittlerweile tummeln sich beispielsweise wiederauferstandene italienische Marken und fernöstliche Marktneulinge am Markt, bei denen gewisse Bedenken bezüglich der Entwicklungstiefe und -erfahrung angebracht sind. In diesen Fällen sollte die Einfahrphase mit etwas mehr Bedacht angegangen werden. Auch die Motorkonstruktion selbst sollte beim Einfahren berücksichtigt werden. Kleine, wassergekühlte Zylindereinheiten haben eine fast perfekte Temperaturverteilung und leiden weit weniger unter betriebsbedingtem Verzug als die großen, luftgekühlten Zylinder einer Boxer-BMW, einer Harley oder einer Moto Guzzi, die recht lange Einlaufstrecken brauchen. Nicht ohne Grund trauten sich bereits in den siebziger Jahren Kreidler, Hercules und Zündapp, ihre kleinen 50-ccm-Motoren ab dem ersten Kilometer für Vollgas freizugeben.
Doch auch wenn ein moderner Motor durch rücksichtlose Fahrweise in der Einfahrzeit kaum nachhaltig beschädigt werden kann, ist eine gewisse Zurückhaltung bis zur ersten Inspektion – meist bei 1000 Kilometern – noch immer ratsam. Immerhin hat die Maschine außer der häufig recht oberflächlichen Auslieferungsinspektion noch keine eingehende Kontrolle hinter sich. Und schon ein nachlässig montierter Kühlwasserschlauch richtet bei hohen Drehzahlen viel mehr Schaden an als bei gemäßigtem Tempo.
Der zweite Grund ist der so genannte Urschmutz, ein Problem, mit dem alle Motorenhersteller kämpfen. Dabei handelt es sich um die Rückstände aus der Fertigung des Motors. Relativ harmlos sind feine Aluspäne, die recht weich sind und kaum nennenswerten Schaden anrichten. Wesentlich schlimmer sind Rückstände aus der Bearbeitung der Kurbelwelle, der Pleuel oder vom Honen, denn dabei handelt es sich teilweise um hochfesten Vergütungsstahl. Auch der feine Abrieb der ersten Einfahrkilometer, der von Kolbenringen, Nocken, Stößeln, Schlepphebeln oder Getriebezahnrädern anfällt, ist sehr hart und nicht gerade Schonkost für die feinstbearbeiteten Gleitlagerflächen. Richtig schlimm aber sind Reste von Gießsand – chemisch Siliziumkarbid – die trotz aufwändigster Waschprozeduren nicht völlig aus den komplizierten Zylindern und Köpfen speziell wassergekühlter Motoren herauszuspülen sind. Zwar werden die groben Bestandteile all dieser Rückstände vom Ölfilter zurückgehalten, die feinen Partikel mit einer Größe unter vier Mikrometer aber wandern ungeniert durch das Filterpapier und verrichten permanent ihr abrasives Werk im Motor. Speziell der Gießsand ist in dieser Hinsicht sehr unangenehm, schließlich wird genau diese Verbindung auf Schleifpapier und -scheiben zum Bearbeiten gehärteten Stahls eingesetzt.
Ein Ventilabriss ist kein Schaden, der durch falsches Einfahren auftritt, sondern passiert aufgrund von Materialfehlern oder falschem Ventilspiel. |
Deshalb gibt es unter Motorenfachleuten die eherne Regel, dass der erste Ölwechsel mit Filter der wichtigste im gesamten Leben eines Motors ist. So finden sich in der Ölfilterpatrone eines gerade eingelaufenen Motors alle verwendeten chemischen Elemente. Gerade die enormen Mengen an Eisenabrieb und Siliziumkarbid wird ein Filter später nie mehr zu sehen bekommen. Ein weiterer Grund, den Motor vor dem ersten Ölwechsel nicht zu hart heranzunehmen, ist die Tatsache, dass einige Hersteller bei der Qualität des Erstbefüllöls sparen, das dann wirklich nach 1000 Kilometern völlig am Ende ist.
Provokation
Alle besprochenen Aspekte sprechen dafür, zumindest bis zum ersten Ölwechsel den Motor moderat zu belasten. Damit sollen beim Einfahrvorgang die Bearbeitungsspuren, wie sie unter der Lupe an Kolben, Ringen, Zylindern und Tassenstößeln erkennbar sind, in dezenter Form eingeebnet und, wenn sie nicht in Bewegungsrichtung liegen, teilweise durch Laufspuren in Bewegungsrichtung ersetzt werden. Entgegen dieser Erfahrungen kursiert seit einiger Zeit im Internet unter www.mototuneusa.com/break_in_secrets.htm eine extrem provokative Behauptung: Nach Ansicht des Autors dieser Seite sollen neue Motoren auf keinen Fall schonend behandelt werden, sondern gerade auf den ersten Kilometern hart hergenommen werden (“Run it hard!”). Andernfalls seien Kolbenringe und Zylinderhonung für eine optimale Motorleistung unrettbar verloren.
Wenn moderne Motoren tatsächlich so empfindlich wären, wie auf der Homepage beschrieben, dann wüssten das vor allem die Motorenhersteller selbst und würden genau einen solchen verschärften Kurzeinlauf beim so genannten Bandendetest vorsehen. Dabei läuft jede neue Maschine im Werk auf einem Rollenprüfstand und wird auf einwandfreie Funktion aller Bauteile geprüft. In der Praxis verläuft dieser erste gefeuerte Betrieb des Motors jedoch ohne sklavische Einfahrvorschriften und beweist erneut die Unempfindlichkeit moderner Motoren. Dagegen wird mit der auf der Homepage empfohlenen Einfahrprozedur unter anderem eine Leistungssteigerung um bis zu zehn Prozent gegenüber konventionell eingefahrenen Motoren versprochen. Dies ist ein extrem optimistischer Wert, der physikalisch nur auf zwei Effekten beruhen kann:
1. Durch Reibungsreduzierung
Dieses Potenzial wird meistens stark überschätzt. Reibungsabbau in Motoren findet definitiv statt, aber auf Grund der extrem verschleißfesten Reibpaarungen über sehr viel längere Laufstrecken als vom Autor dieser Internet-Seite vermutet. So zeigen Messungen, dass manche Motoren noch nach 15000 Kilometern Reibung in geringem, aber durchaus messbaren Umfang abbauen.
2. Durch verbesserte Abdichtung zwischen Kolbenringen und Zylinder
Auch dieser Effekt wird meist stark überschätzt. Die oberen beiden Kolbenringe sind heute meist als Minuten- oder Nasenminutenringe ausgelegt und besitzen eine um wenige Winkelminuten angeschrägte Lauffläche, um an dieser Stelle bewusst eine Anpassung an die Zylinderoberfläche zu ermöglichen. Dabei laufen sowohl die Ringe als auch die gehonte Zylinderlaufbahn nur im Mikrometerbereich und das über sehr lange Laufstrecken ein, ansonsten liegt an dieser Stelle eine krasse Fehlauslegung vor, die mit Sicherheit zu hohem Ölverbrauch oder hoher Durchblasemenge führen würde.
Weniger bekannt ist, dass bei manchen Motoren die Ventile im brandneuen Zustand nicht völlig dicht sind. Trotz sehr genauer Bearbeitung von Ventilen und Ventilsitzen kommt das vor, weil der Zylinderkopf im ungespannten Zustand bearbeitet wird und sich die Ventilsitze beim Anziehen der Kopfschrauben leicht verziehen können. Deshalb sind die Oberflächen von Ventilen und Ventilsitzringen bewusst leicht rau belassen, um eine Feinanpassung während des Einlaufs zu ermöglichen. Hier hilft in der Tat eine gewisse scharf gefahrene Laufstrecke, um eine perfekte Abdichtung der Ventile sicherzustellen. Das aber hat ohne weiteres Zeit bis nach der ersten Inspektion.
In der Summe ist auf Grund von Einlaufeffekten mit einer Leistungssteigerung von zwei bis fünf Prozent gegenüber einem nicht eingelaufenen, “grünen” Motor zu rechnen. Damit bewegt sich das Einfahrpotenzial ziemlich genau im Bereich der Serienstreuung und zeigt, dass allein der Nachweis einer anderen Einfahrmethode extrem schwer und nur mit großem Aufwand realisierbar sein wird.
Kritik ist vor allem an der grob verallgemeinernden Form der Einfahrempfehlung zu üben. Zwar mag es den meisten Motoren wirklich nichts ausmachen, wenn sie in der Frühphase ihres Daseins hart hergenommen werden. Aber schließlich wissen Kenner, dass ein Motor – wenn überhaupt – dann gerade auf den ersten Kilometern seines Lebens an kritischen Stellen zum Fressen neigt. Dabei ist nicht nur an die Paarung Kolben/Zylinder, sondern auch an das hoch beanspruchte obere Pleuelauge zu denken. An dieser Stelle lassen immer mehr Hersteller die teure Bronzebuchse weg und den einsatzgehärteten Kolbenbolzen direkt im gehonten oberen Pleuelauge aus Vergütungsstahl laufen. Brutales Einfahren kann an dieser heiklen Stelle hässliche Fressspuren und vorzeitigen Verschleiß provozieren.
Selten beachtet, aber hoch beansprucht: das obere Pleuelauge. Die Bronzebuchse zeigt deutlich sichtbare Laufspuren.
Auch wenn sich die zitierte Einfahrempfehlung auf den ersten Blick spektakulär anhört, ist sie für Motorexperten nicht wirklich neu. Denn schon lange gibt es in Fachkreisen hinter vorgehaltener Hand die Empfehlung vom “verschärften Einlauf”, der dem Motor das eine oder andere Kilowatt Nennleistung bescheren soll. Diese Einlaufprozedur wird meist im Zusammenhang mit Sport- oder Rennmotoren angesprochen, also wenn es vorwiegend um maximale Leistung geht. Von Ölverbrauch, Verschleiß oder Lebensdauer des Motors ist dann allerdings nie die Rede. Wahrscheinlich ist dies auch der Grund, warum keiner der schlauen Ratgeber seine eigenen Motoren auf diese Weise einfährt.
Und noch ein Ratschlag auf dieser Homepage ist so alt wie Methusalem und wird seit Jahrzehnten voneinander abgeschrieben: Dass in der Einfahrphase kein synthetisches Öl gefahren werden soll, weil die drastisch verringerte Reibung die Einfahrphase künstlich verlängern würde. Diese Behauptung wird durch exakte Messungen jedoch eindeutig ins Reich der Fabel verwiesen. Für den Abschluss des Einfahrvorgangs kommt deshalb in meinen eigenen Motor nach dem ersten Öl- und Filterwechsel auf jeden Fall ein sehr hochwertiges Öl, und das kann durchaus ein vollsynthetisches sein. Schließlich gibt es nicht wenige Motoren, die schon ab Werk mit synthetischem Öl befüllt sind.
Nach dem ersten Ölwechsel, wenn der größte Teil des Urschmutzes und des Erstabriebs aus dem Motor entfernt sind, sollte der Motor langsam steigernd in den Bereich der Nennleistung gebracht werden, um die Einlaufvorgänge wirklich in jedem Betriebszustand zu Ende zu bringen. Durch den höheren Gasdruck bei hoher Last werden die Kolbenringe stärker an die Zylinderwand angepresst, zusätzlich beginnen sie bei höheren Drehzahlen im Zylinder zu rotieren, ebenso wie die Ventile in Tassenstößelventiltrieben, was den Einlauf dieser Teile ungemein fördert. Wichtig sind höhere Drehzahlen und höhere Lasten, damit alle Bauteile im Brennraum höhere Temperaturen sehen. Und das tunlichst über längere Zeit, sonst gibt es keinen Einlaufeffekt. Dafür ist eine längere, mit steigender Geschwindigkeit gefahrene Autobahnstrecke geradezu ideal. Genau so wird das übrigens auch von den Motorherstellern mit Entwicklungs- und Dauerlaufmotoren praktiziert, dort allerdings auf dem Motorprüfstand. Wer diese Prozedur scheut, riskiert, auf ewig einen Oma-Motor spazieren zu fahren: Solche Motoren haben keine optimale Kompression, und die Nachmessung der Leistung wird immer enttäuschende Werte ergeben. Das gilt ebenso für den Kraftstoff- und Ölverbrauch. Mehr noch: Diese Aussage gilt auch für bereits eingefahrene Motoren, die ausschließlich extrem zahm bewegt werden. Genaue Prüfstandsmessungen belegen, dass sich solche Aggregate mit der Zeit sowohl im Kraftstoffverbrauch als auch in der Nennleistung verschlechtern. Abhilfe ist einfach. Dazu muss der Motor lediglich einige Kilometer auf der Autobahn mit höherer Geschwindigkeit bewegt werden, und schon werden Sie eine spürbare Steigerung der Höchstgeschwindigkeit feststellen. Für dieses Phänomen dürften primär nicht ganz dicht schließende Einlassventile verantwortlich sein, häufig verursacht durch Ablagerungen aus Ölkohle und Kraftstoffadditiven an den Ventiltulpen.
Fazit
Die Wahrheit zwischen den extrem pedantischen Einfahrvorschriften aus der Betriebsanleitung und den provokativen Empfehlungen der zitierten Homepage liegt wohl in der Mitte. So ist sorgfältiges Einfahren auch heute keine überflüssige Prozedur, wird aber häufig in seiner Bedeutung drastisch überschätzt. Zum Glück sind moderne Motoren so robust, dass man aus dem Thema Einfahren keine Philosophie machen muss.
Neuer (links) und eingelaufener Tassenstößel (rechts). Die Bearbeitungsspuren sind völlig verschwunden. An dieser Stelle wird Reibung abgebaut.