King of the Bagger Indian Challenger

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Schneller Koffer: Das Meisterbike im Detail

Vom Parc Ferme in den USA auf die Mailänder Bühne. Von dort vor die wild blitzende MO-Kamera. Mit offenem Mund und großen Augen erkunden wir die schnellste Indian. 270 mit Koffern. Die Amis spinnen

Bigger is better! Drüben im Land der großen Farmen, Burger und Hubräume herrscht ein anderes

Grundverständnis zum Thema „Größe“. Supersize gilt vor allem, wenn es um den in USA gelebten Showfaktor geht. Ein top Beispiel für das amerikanische Phänomen liefern hierzu auch die beiden Größen im Motorrad/Heavy Metal-Geschäft. 2020 entstand die Idee, das etablierte Markenduell Indian – Harley von der Dirt Track-Bahn auch auf festen Asphalt zu verlegen. Ob die Bestimmung der Spielregeln fürs erste „King of the Baggers“-Championat unter Einnahme von Alkohol entstand, ist nicht bekannt, aber naheliegend. Man einigte sich auf wenige, aber gut verständliche Fixpunkte: Es müssen Koffer montiert sein, Serien-Hauptrahmen, Mindestgewicht 290 Kilogramm.

 

Um der steilen Idee die richtige Vermarktungsplattform zu geben, arrangierten sich die Hersteller mit dem Vermarkter der prominenten US-Superbike-Meisterschaft Moto America. Die pummeligen Big Twins könnten doch ein nettes Rahmenprogramm für die Topklassen abgeben. Eine Annahme, die sich nach zwei Jahren Bagger Racing (Rennen mit Koffern klingt klar uncooler!) als deutliche Untertreibung heraus stellte. Denn 2022 eskalierte die Marketing-Kampagne in Richtung waschechten Hardcore-Rennsport. Aus der Idee, mit dezent optimierten Serieneisen lustig im Kreis zu fahren, wurden massive Entwicklungsprojekte unter Einsatz gewaltiger Ressourcen. Nennen wir es einfach Freiheit. Denn in den Vereinigen Staaten von Amerika ist es auch heute noch möglich, ein Projekt mit einer „Kopf durch die Wand“-Mentalität anzugehen und durchzusetzen. Makes sense? Who cares? We just wanna win that thing!

 

Bei Indian holte man sich neben dem bekannten, sauschnellen Tyler O‘Hara den nicht weniger fixen, aber vor allem unfassbar erfahrenen Jeremy McWilliams an Bord. Der Ire, der als ein rasendes Technik-Lexikon der Fahrphysik gilt, half kräftig mit, um aus der Indian Challenger eine Meistermaschine zu stricken. Mit voller Unterstützung des Werks wurde um den US-Tuning-Spezialisten S&S Cycle aus Wisconsin das offizielle Team der „Indianer“ aufgestellt. Nach sieben Rennschlachten und einem bis zum Finale offenen Kampf holte O‘Hara die Meisterschaft — gegen die mit 2,3 Liter rennenden und damit formell stärkeren Harleys.

Fuckin‘ hell & Madonna! Was für ein irrer Feuerstuhl. Die Renn-Indian ist auch Show-Bike

Bereits an den Bildschirmen hatte es die MO-Redaktion heftig atmen lassen. Doch noch beeindruckender als die Rennverläufe auf Youtube ist das Koffertier im Echtzeitformat. Auch abgezockte Insider verloren den Glauben an alles Rationale, als sie den Messestand von Indian auf der jüngsten Mailänder Ausstellung betraten. Kaum war der Titel in der Tasche, wurde das Siegerbike nach Europa geflogen, um der Szene auf unserem Kontinent die volle Bagger-Dröhnung zu verabreichen. Ich gebe zu: Während meines dreitägigen Besuches auf der EICMA hat mich die brutalste Indian ever mindestens fünf Mal magnetisch auf den Stand der US-Truppe gesaugt. Fuckin‘ Hell – Madonna – was für ein komplett irrer Feuerstuhl! Die Penetranz der MO-Belegschaft war jedenfalls von Erfolg gekürt. Die Indian-Leitung gab uns die schnellsten Seitenkoffer der Welt einen Tag nach Messeende für ein offizielles Fotoshooting frei. Nur selten verwenden wir das Wort Stolz, hier ist es angebracht. Als erstes Magazin überhaupt zeigen wir die superpotente Challenger in allen Details.

 

 

Superpotent? Ein 290-Kilogramm-Cruiser mit Slicks? Yeah! Allen Hobby-Racern, die jetzt milde lächeln und der Meinung sind, sie würden um den Race-Bagger auch einhändig Kreise fahren, nehmen wir jetzt den Wind aus den Segeln. Was hier auf diesen Seiten vor Euch steht, das ist sehr, sehr, sehr ernst. Und noch schneller. Wenn Ihr mit Eurer getunten Panigale-R1-Doppel-R-Ninja in Oschersleben keine 1:28er-Runde zusammenbringt, dann könnt Ihr das Heft gleich zuklappen. Echt jetzt.

Die Herren O‘Hara und McWilliams umrunden, nach gut 24 Monaten verrücktem Tüfteln, am Limit die Pisten des US-Rennkalenders im Schnitt drei Sekunden langsamer als ein siegreicher US-Profi vom Kaliber eines Danilo Petrucci oder Jake Cagne und sind gleich schnell beziehungsweise schneller (Daytona) als die Racer der Supersport-Division. No Kidding.

Unglaublich, aber wahr: Pro Runde fehlen nur drei Sekunden auf ein Renn-Superbike

Aber wie bitte soll es möglich sein, mit einem Motorrad, das für XL-touristisches Highway-Cruisen entwickelt wurde, so fix zu sein wie ein für den Rennsport konzipiertes Eisen? Die Antwort: Gib dem Bagger mehr und mehr Leistung und erhöhe im überproportionalen Verhältnis seine Stabilität! Klingt simpel, ist es natürlich nicht. Zumindest die Sache mit der Steifigkeit erfordert ein letztlich gesamteinheitliches Umkrempeln des Chassis.

 

 

 

Bereits mit der motorischen Serienspezifikation von 122 PS und 178 Nm bei gut 1,6 Litern Hubraum ist die Fuhre zwar stabil im Sinne von Fahrsicherheit, aber niemals dafür gemacht, auf der letzten Rille zu operieren. Bei S&S wurde der gesamte Antrieb in mehreren Stufen in Sachen Leistung und Drehmoment gedopt. Von zunächst rund 135 Pferden mit offener Ansaug- und Abgasperipherie ging es im Entwicklungsvorgang durch alle Disziplinen des klassischen Tunings. Feingewuchtete und erleichterte Kurbelwelle, höhere Verdichtung, angepasste Steuerzeiten, überarbeitete Brennräume. Das volle Programm endete in der Schlussphase der ‘22er-Saison bei über 170 PS und guten 180 Nm Druck. Die Zugkraft ist nahezu komplett linear. Zwischen 4000 und 7000 Touren gibt es immer die volle Brause – bei 7500/min ist Schluss.

In Kombination mit der originalen Getriebeeinheit ergibt sich so eine Übermacht an Beschleunigung. Auch dank der Anti-Wheelie-Geometrie schiebt die Renn-Challenger an wie ein Dragster. Aus dem Stand wurden 2,4 Sekunden auf 100 Sachen nachgewiesen. Jeremy McWilliams erzählte seinem Nachbar Jonathan Rea davon. Der Superbike-WM-König hob die Braue und sagte: „Mit meiner Werks-Kawasaki schaffe ich es in schnellstens 2,6 Sekunden.“

Wo wir gerade beim Quartett sind. In der Steilwand von Daytona rauschte McWilliams mit über 165 Meilen oder 270 km/h durch die Lichtschranke. Leistung zu erzeugen, ist für ein guten Motorentechniker ein schöne Aufgabe, noch spannender war es im Fall der Challenger, diese für Piloten in Fahrbarkeit zu verwandeln. In Mailand berichtete Routinier McWilliams von anfangs haarsträubenden Ritten: „Je mehr Leistung dazu kam, desto entscheidender war die Abstimmung der Ride-by-wire-Gassteuerung. Bei einem hubraumgewaltigen Twin eine große Aufgabe. Doch bei bei S&S waren zwei super clevere Techniker am Werk, mit denen es gelang, die Leistung auch gut abzurufen.“

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Der Challenger-Twin ist eine moderne Konstruktion. Mit 60 Grad Zylinderwinkel baut der 1768 ccm große Motor vergleichsweise kompakt. Bereits in Serie liegen knapp 180 Nm Drehmoment an. S&S kümmerte sich daher vor allem darum, die PS-Leistung den Newtonmetern anzugleichen. Mit Erfolg. Maximaldrehzahl des Boliden: 7500/min

All das ist noch harmlos, wenn es darum geht, alle Maßnahmen zur Verbesserung der Steifigkeit zu listen. Unfassbar: Unter dem Motor wurde gegen Verwindung eine massive Strebe, ähnlich einer Zahnspange, angepasst. Der Lenkkopf wurde mit zusätzlichem Material verstärkt. Dazu dramatisch größer dimensionierte Gabelbrücken. Die Öhlins-Renngabel musste mit nachträglich verstärkten Gabelschuhen versehen werden (bei ersten Tests bog sich die Forke wie eine al dente-Nudel).

Entscheidend auch, um den Twin-Schub in soliden Vortrieb umzusetzen, ist die ebenfalls von S&S gefertigte Leichtmetall-Zweiarmschwinge. Optisch eher grob, erfüllt die Konstruktion ihren Zweck. Unscheinbar, aber von extremer Wichtigkeit: die Räder. Über die Saison wurden alleine hier sechs verschiedene Fabrikate getestet. Jeremy McWilliams: „Eine besondere Eigenschaft des Baggers ist der extrem hohe Speed in der Kurvenmitte. Der wird möglich durch das hohe Gewicht, bringt aber gleichfalls viel Stress für die Räder und Reifen. Den vorderen Dunlop Superbike-Slick haben wir mit knapp drei bar Luftdruck gefahren“, erzählt der Entwicklungs- und Rennfahrer.

Der Beweis ist erbracht: Auch die verordneten knapp 300 Kilo Basisgewicht sind kein Hinderungsgrund für Rundenzeiten in Schlagdistanz zu reinen Supersportlern. Geschenkt gibt es aber nichts. Die irre Pace des „King of Baggers“ ist bezahlt mit heftigem Einsatz enthusiastischer Profi-Techniker und mit dem Schweiß der schnellsten Koffer-Chauffeure. High Five für diesen mutigen und großartigen Unsinn, made in USA.


Bildergalerie:


Text: Thomas Kuttruf
Fotos: Fotolibera