2012-09 Leitartikel

Jo Soppa - Chefredakteur MO

Jo Soppa

Immer die Kleinen

Für die reale Welt. Nicht nur italienische Motorrad-Manufakturen sind für große Überraschungen gut

Ganz gleich, ob es um das Abführen von Steuergeldern oder die wichtigen Impulse für die Motorradszene geht: Auf die Kleinen ist Verlass. Oder wie es in Amerika so treffend heißt: Es sind die kleinen Leute, die die Welt am Rotieren halten. Aber was heißt schon klein, was groß? Letztlich ist das nur eine Frage der Perspektive – oder der Abgehobenheit.
Alles andere als abgehoben sind jedenfalls die Leute um Clemens Neese. MO-Lesern ist dieser Name in Verbindung mit den Wiederbelebungsversuchen rund um die Marke Horex wohl bekannt. Seit gut vier Jahren unternimmt Neese alles, um eine Motorradgeschichte auf eine Art und Weise fortzusetzen, die besonders hierzulande absoluten Seltenheitswert besitzt. Er will ein von vorne bis hinten, oben und unten vollständig neu entwickeltes Motorrad in Serie bauen. Bisweilen belächelt, bisweilen bewundert, ist ihm zumindest jetzt das Kunststück gelungen, die ersten fahrbereiten Fahrzeuge der Presse zum Test vor die Füße zu stellen. Wie es um das Projekt Horex genau steht, erfahren Sie in dieser Ausgabe ab Seite 16.
Im südlichen Nachbarland Italien sind derartige „Startups“, wie das auf Neudeutsch heißt, fast schon an der Tagesordnung. Um die Dauerhaltbarkeit dieser Neugründungen ist es nicht immer zum Besten bestellt. Aber es ist garantiert viel ansteckender Enthusiasmus mit im Spiel, der doch stets neue Geldgeber aktiviert, wenn so einem Projekt mal wieder die finanzielle Puste ausgeht.
Sehr erstaunlich ist da etwa die Entwicklung, die MV Agusta seit dem Ableben des Seniorchefs Claudio Castiglioni genommen hat. Inzwischen führt sein Sohn Giovanni die Geschäfte, und der scheint mit seinen ausnahmsweise einmal kühl kalkulierten Plänen so schlecht nicht zu liegen. Mit der neuen Dreizylinder-Generation will man jetzt mit günstigen Preisen, moderner Fertigungstechnik und rigider Qualitätskontrolle auf die Stückzahlen kommen, die der ruhmreiche Markenname verdient hat. Wie sich die aktuell günstigste MV Agusta, nämlich die 675er Brutale, im ureigenen Motorradrevier aufführt, sagen wir Ihnen in diesem Heft.
Und weil Italien immer eine Reise wert ist, bleiben wir gleich dort. Guido Kupper und Andreas Güldenfuß besuchten eine ganz kleine Firma, die sich dem Geist der ehedem großen, kleinen Marke Laverda verpflichtet sieht. Die Namensrechte von Laverda liegen in den Händen des Piaggio-Konzerns, und die scheinen mit ihren anderen Motorradmarken Aprilia und Moto Guzzi genügend Baustellen zu haben. Neue Laverdas sind derzeit also pures Wunschdenken. Also gaben die getreuen Laverda-Fans ihrem neuen Motorrad einfach den Namen des Ursprungsorts: nämlich Breganze. Dabei spielte ihnen der Zufall in die Hände. Sie konnten ein Ersatzteillager mit alten Komponenten der zuletzt produzierten Motorengeneration übernehmen. Dieser Rohstoff reicht für eine Kleinserie, die selbstverständlich ihren Preis hat. Wie das Motorrad für ausgesuchte Liebhaber aussieht und wie es sich fährt, offenbaren Ihnen unsere beiden Italien-Korrespondenten ab Seite 20.
Selbstverständlich zeigen wir den Branchenriesen in diesem Heft nicht die kalte Schulter, auch wenn diese, speziell jene der japanischen Provenienz, sich seit geraumer Zeit aus der öffentlichen Wahrnehmung auffallend zurückgezogen haben. Im großen Testteil haben wir uns diesmal die Honda VFR 1200 mit automatisiertem Doppelkupplungsgetriebe vorgenommen. Motorrad-High Tech, sozusagen, die in dieser Form derzeit einzigartig am Markt ist. Ob der ganze Aufwand dazu angetan ist, tatsächlich die Freude am Motorradfahren ein Stück weiter zu befördern, sagen wir frank und frei ab Seite 62.
Zurück zu den Wurzeln der Fahrfreude hieß es dagegen für Testchef Guido Kupper. Die ganze Saison über kniete er sich zusammen mit dem Testteam in den großen Reifentest. An der entscheidenden Schnittstelle zwischen Asphalt und Motorrad spürte er im Spannungsfeld zwischen Haftung, Kurvenfreudigkeit und Rückmeldung mit geschärften Sinnen die idealen Reifenpaarungen auf. Seine Endergebnisse erwarten Sie in dieser MO-Ausgabe.
Schließlich möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf eine ganz besondere Veranstaltung lenken. Am ersten September-Wochenende (31. August bis 2. September) findet auf der ehemaligen Solitude-Rennstrecke bei Stuttgart wieder das Glemseck 101-Treffen statt. Dabei geht es nicht nur um Klassiker und guten alten Cafe Racer-Spirit, sondern ganz zentral um die ewig junge Art des urwüchsigen Motorradfahrens. Seien Sie dabei, ganz egal, ob sie eine große oder kleine Motorradmarke bevorzugen. Die Freude am Krad wird in jedem Falle riesig sein.

Großartige Spätsommer-Erlebnisse wünscht

Jo Soppa
Chefredakteur
 

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