2013-08 Leitartikel

Jo Soppa - Chefredakteur MO

Jo Soppa

Unmittelbar Motorrad
Konstrukteure der Zukunft müssen wieder mehr Seele und weniger abstrakte High Tech in ihre Motorräder einbauen

Kürzlich schickte uns ein wohlmeinender MO-Leser einen Motorrad-Zubehörkatalog ins Haus. Das hochwertig gebundene 700-seitige Druckwerk stammte weder von einem der bekannten Großversender, noch war es eine aktuelle Ausgabe. Den bemerkenswerten Katalog hatte die in London ansässige Firma Brown Brothers Limited anno 1914 an ihre hoch verehrte Kundschaft herausgegeben. Das heißt, nächstes Jahr wird das rare Stück bereits 100 Jahre alt. Dem noblen Spender haben wir sofort eine besonders dicke Kerze in unserem Redaktionsschrein angezündet.
Entsprechend weihevoll blätterten wir behutsam und staunend das unglaublich detailliert und aufwendig produzierte Katalog-Kunstwerk durch. Bereits nach den ersten Seiten war klar: Gegen die Vielfalt, Raffinesse und vor allem Wertigkeit von Uropas Motorradzubehör sehen wir mit unseren heutigen superduper-CNC-gefrästen Aluteilen, mikroelektronischen Nettigkeiten und ach so fortschrittlichen Kohlefaser-Laminaten nicht wirklich wie die technologischen Überflieger aus.
Vor allem könnte man jedes der im Oldtimer-Katalog präsentierten Bauteile heute für ein Heidengeld an Mann und Frau bringen. Ob das mit den Brocken aus aktueller Fertigung auch einmal gelingt, wage ich heftig zu bezweifeln. Aber damit dürfen sich dereinst meine Enkel auseinandersetzen.
Mir wurde jedenfalls wieder einmal klar, wo der elementare Unterschied zwischen gestern und heute liegt: Es ist die Unmittelbarkeit. Historische Gerätschaften aus den goldenen Tagen der Mechanik haben fast immer einen im Handwerk verwurzelten und jederzeit abrufbaren Nutzen. Einen Nutzen, der erstaunlicherweise heute noch genauso funktioniert wie vor 100 Jahren. Moderne Waren aus dem Computer-Zeitalter ticken anders. Begrifflichkeiten wie „Nutzeroberfläche” zeigen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Zwischen Produkt und greifbarem Endnutzen sind für den Käufer abstrakte Technologieebenen zwischengeschaltet. Bestes Beispiel ist die allgegenwärtige PC-Branche. Was an Technologie und Fertigungs-High Tech in nur einer einzigen Rechnerplatine steckt, ist schier unfassbar. Vor allem aber unreparierbar. So landet diese tatsächlich kostbare „High Tech” bereits nach kurzer Nutzungsdauer auf dem Elektronikschrott in Afrika oder Indien, wo von Kinderhand die eingebundenen Rohstoffe in primitivster Steinzeitmanier regelrecht heraus gebrochen werden. Eine groteske Situation, die den ganzen Irrsinn unserer Industriegesellschaft entlarvt.
Ein Irrsinn, dem wir mit dieser MO-Ausgabe wieder einmal ein Schnippchen schlagen. Ausgesucht haben wir für Sie deshalb handfestes Material für das ursprüngliche, möglichst pure, unmittelbare Motorraderlebnis. Soulful Motorcycling heißt denn auch das Motto für unser August-Heft in Anlehnung an unseren englischsprachigen Klassiker-Katalog. Seine Lektüre kann ich nicht nur allen interessierten Historikern, sondern ganz besonders allen heutigen Motorrad-Konstrukteuren empfehlen. Der Blick zurück macht mitunter deutlich, an welcher Wegkreuzung in eine falsche Richtung abgebogen wurde. Zumindest in Sachen Motorrad haben wir heute die Möglichkeiten, zu den alten Wegpunkten zurückzukehren und für uns ganz privat ein wenig Zeitmaschine zu spielen. In diesem Sinne. Suchen Sie sich ein solides Motorrad zum gut daran Festhalten aus und starten Sie durch zu zeitlosem Motorradvergnügen.

Beste Unterhaltung mit der beseelten MO-Sommerausgabe wünscht

Jo Soppa (Chefredakteur)
 

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