Moto Guzzi V 100 im Test

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Bulliger Motor, klasse Fahrwerk und eine ausgezeichnete Sitzposition. Guzzi macht vom Fleck weg einen gelungenen und tourentauglichen Roadster

Moto Guzzi modern. Lebt das Guzzi-Phänomen auch in der V100?

Bei Moto Guzzi in Mandello del Lario am schönen Comer See zieht die Zukunft ein. Vielleicht nicht unbedingt jene, die sich so mancher Fan gewünscht hat, aber eine, die den Kern der Marke spiegelt. Sie soll Tradition und Moderne verbinden, aber auch Roadster mit Tourer. Der erste Eindruck der V100 Mandello S

Wegen Rutschgefahr geschlossen. Zahlreich waren die Tränen am Moto Guzzi-Stand der Kölner Motorradmesse im vergangenen Herbst geflossen. Viele Pfützen der Enttäuschung. Nur ein paar wenige des Glücks. Der deutsche Guzzi-Fan wünscht sich nun einmal eine Le Mans mit leistungsstarkem Motor. Eben genau so, wie sie zahllose Tuner seinerzeit gebaut haben. Und dann steht da die V100 Mandello. Natürlich dank V-Motor unverkennbar eine Moto Guzzi. Aber irgendwie auch nicht. Auf dem Podest steht kein stahlgewordener germanischer Jugendtraum im Retro-Kleid, sondern ein modernes Motorrad. Zeitgemäß und trotzdem gefällig. Dazu tadellos verarbeitet, die Optik aufgeräumt clean und obendrein irgendwie interessant. Und genau das ist die V100. Denn sie ist seit Jahrzehnten das erste Motorrad aus Mandello del Lario, welches einen völlig neu entwickelten Motor hat. Und dieser bricht in vielerlei Dingen mit alter Tradition. Aber die 115 PS und 105 Newtonmeter Drehmoment des wassergekühlten Vierventilers sind völlig auf der Höhe der Zeit. Auch sonst – und das versprechen allein die schnöden Angaben auf dem Papier, ist die Moto Guzzi ein durch und durch modernes Motorrad. Ganz zum Leidwesen vieler Traditionalisten.

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Good old V-Twin. Jetzt aber mit Wasserkühlung und ordentlich Leistung

 

Viel wichtiger jedoch als sämtliche Fakten und Daten ist die Frage, ob es Guzzi geschafft hat, sich zum 100sten Geburtstag in der V100 selbst neu zu erfinden. Noch in der letzten Guzzi-Geschichte (MO 8/2022) ging es zu Beginn um die Frage, ob man Moto Guzzi-Motorräder nach herkömmlichen Gesichtspunkten testen kann oder nicht. Bislang galt es, sie erst einmal zu erfahren. Sie zu begreifen. Sie zu fühlen und spüren. Guzzis aus Mandello sind eben nicht einfach nur Motorräder. Das wird einem ganz schnell klar, wenn man von wildfremden Menschen, egal bei welchem Stopp auch immer, auf sie angesprochen wird. Doch dies wird dank des unverkennbaren Motors auch in Zukunft so bleiben. Nur dass es jetzt sogar noch etwas mehr Gesprächsstoff geben dürfte. Auch schön.

Neue Mandello-DNA

Das Wichtigste aber überhaupt: Moto Guzzi hat ein Motorrad geschaffen, welches für sich betrachtet Interesse weckt. Es wird Menschen mit und vor allem ohne Bezug zur Marke ansprechen. Die V100 wird von „normalen“ Menschen zuvorderst als Motorrad wahrgenommen werden, während sie für Fans der Marke eine Guzzi bleibt. Für erstere gehört sie rechtschaffen getestet. Ohne rosarote Guzzi-Brille. Für die anderen zählen Werte, die sich nicht objektiv messen lassen, sondern die man nach wie vor erleben muss. Nach dem ersten längeren Bestaunen und Befingern wird schnell klar, dass bei der Entstehung nicht mehr „nur“ Leidenschaft am Werke war. Wo einst die Schrauben mit Liebe angezogen wurden, knackt heute der Drehmomentschlüssel. Moderne industrielle Standards des Piaggio-Konzerns, zu dem die Marke Moto Guzzi seit 2004 gehört, haben eine gute Portion Herzblut abgelöst. Einzelteile wie Blinker, Griffe, Spiegel und vieles mehr, finden sich auch an anderen Modellen des Zweirad-Riesen. Und natürlich viele Dinge, die man auf den ersten Blick nicht sieht, Stichwort: Elektronik. Vielmehr allerdings stellt sich die Frage, ob es gelungen ist, trotzdem die Guzzi-Seele zu be- und erhalten.

 

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Bulliger Motor, klasse Fahrwerk und eine ausgezeichnete Sitzposition. Guzzi macht vom Fleck weg einen gelungenen und tourentauglichen Roadster

 

So standen die Entwickler der V100 zunächst vor einer ziemlich vertrackten Aufgabe in vielerlei Hinsicht. Sie mussten ein Triebwerk entwickeln, das alle Anforderungen der Zulassungsbehörden erfüllt, ordentlich Leistung hat und trotzdem am Ende eine Moto Guzzi ist. Dazu sollte um den Motor als Herzstück des Ganzen ein Motorrad entstehen, das knackig, handlich und noch dazu bequem ist. Und dann war da ja noch die Sache mit der Tradition. Nicht, dass aus der Seenplatte gleich ein ganzes Tränenmeer wird.

Alte Guzzis erwachen zum Leben. Die neue springt einfach an. Und das ist auch gut so

Aber der Reihe nach, zunächst vom Start weg. Bei der Sitzposition zumindest passt schon mal alles. Angenehm aufrecht. Der Lenker streckt sich dem Fahrer weit entgegen, liegt gut in der Hand, ist recht breit mit schön dicken Griffen. Die Sitzhöhe fällt mit 815 Millimetern moderat aus und lässt sich mittels optionaler Polster auf 800 oder 835 Millimeter abändern. Beim Start dagegen gehen die Meinungen auseinander. Normal erwacht eine Moto Guzzi eher schwer zum Leben. Unwillig schnaubend rumpelt und tickert das Urvieh schüttelnd los und bekommt bei jedem Gasstoß schon gleich wieder Bettschwere. Wie ein Drache nach einem tausendjährigen Schlaf, der sich erst einmal sortieren muss, bevor er abhebt. Die Neue hingegen springt einfach an wie ein ganz normales Motorrad. Bollert aber schön trocken im Stand, klingt wohltuend und nach ordentlich Hubraum. 1042 ccm insgesamt, die sich auf einen eher kurzen Hub von 72 Millimetern und eine dafür größere Bohrung von 96 Millimeter verteilen. Das markante Klong beim Einlegen des ersten Gangs bleibt erhalten. Dann ab durch das berühmte rote Werkstor. Das Ansprechverhalten des Vierventilers ist elegant, geschmeidig und direkt. Klasse gemacht. Zur Verfügung stehen vier Fahrmodi, Regen, Touring, Straße und Sport. Von denen die beiden mittleren auf unserer Strecke relevant sind. Und, die neben Motorcharakteristik, Traktionskontrolle und Motorbremse auch die Fahrwerkseinstellungen beeinflussen. Zumindest in der hier gefahrenen S-Version für 18 000 Euro.

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Weltneuheit im Motorradbau: selbstjustierende Aerodynamik. Die beiden Klappen (Flaps) auf den Tankflanken fahren je nach Geschwindigkeit und gewähltem Fahrmodus automatisch aus und ein

 

Schon wenig später zeigt sich die grandiose Leistung, die die Entwickler vollbracht haben, die ja nicht nur einen neuen Motor, sondern ein neues Motorrad in einem nicht übermäßig bespielten Segment geschaffen haben. Die einst gängige Praxis ging von einem Sportler aus, dem ein paar touristische Eigenschaften eingehaucht wurden. Sporttourer. Bestes Beispiel ist eine Honda VFR 750. Guzzi allerdings ging einen anderen Weg, man verflocht Roadster- und Touring-Gene zur V100-DNA und – nicht zu vergessen – ein Strang Tradition. Der spiegelt sich im schwarzen Le Mans-Rückgrat, welches sich von der Verkleidung über Tank bis zur Sitzbank zieht. Aber auch in den nun echten Schlitzen in den Seitendeckeln oder der kleinen Frontverkleidung, deren Seitenteile an die seligen bauchigen Tankflanken erinnern.

 

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Beim Fahrwerk entschied sich Moto Guzzi für eine handliche und trotzdem recht stabile Geometrie. Lenkkopfwinkel 65,3 Grad, Nachlauf 104, Radstand 1475 Millimeter. Federweg vorne und hinten je 130 Millimeter. Damit liegt die V100 ungefähr gleichauf mit einer KTM Super Duke. Der Motor indes ist mittragendes Element der stählernen Rahmenkonstruktion.

Das neue Flaggschiff ist durch und durch modern – dennoch im Herzen unverkennbar Guzzi

In freier Natur und auf kleinen engen Bergsträßchen zählen andere Dinge. Etwa der spontane Antritt des Triebwerks, die gelungene Art der Leistungsentfaltung und der bullige Drehmomentverlauf, bei dem etwa ab 3500/min bereits 80 Newtonmeter Drehmoment zur Verfügung stehen. So lässt sich mit der V100 einerseits gemütlich schaltfaul bummeln und andererseits wirklich sehr engagiert anreißen. Voll in die Karten spielt bei der S-Version das semiaktive Fahrwerk Öhlins Smart EC 2.0 mit einer 43er-Upside-down-Gabel. Ausgehend vom gewählten Modus agiert es von soft bis hart und justiert je nach Fahrbahnbeschaffenheit selbstständig nach. Ein Gedicht. Allein das wären – zumindest mir – die 2500 Euro Aufschlag im Vergleich zur Basisversion wert. Diese kostet 15500 Euro und kommt mit einer 41er-Kayaba Upsidedown-Gabel aus, welche ebenfalls in Zug- und Druckstufe eingestellt werden kann. Die Vorspannung des Kayaba-Monofederbeins lässt sich wie beim S-Modell bequem über ein Handrad einstellen, die Zugstufe dann manuell.

 

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Nicht flammneu, aber topmodern, ist das TFT-Display mit guter Übersichtlichkeit und Kontrast sowie Connectivity

 

Während man sich bergauf also mit der Mandello vor nichts und niemand zu verstecken braucht, kann man es bergab ebenfalls maximal krachen lassen. Nur nicht im Getriebe, denn hier sortiert bei der S ein Schaltautomat fein säuberlich und notfalls mit Zwischengas die Gänge. So lässt es sich freudig auf eine Spitzkehre zufliegen, dank Quick-Shifter und Anti-Hopping-Kupplung bedenkenlos die Gänge heruntersteppen und beherzt in die grandios arbeitenden Brembo-Stopper langen, die für die 233 Kilogramm Lebendgewicht nur ein müdes Lächeln übrig haben. Vorne enorm präzise, leicht dosierbar und in der Verzögerung erste Sahne. Ja, hinten bremst es auch. Allerdings lange nicht so ordentlich – Schwamm drüber. Da ist sie dann doch wieder, die Guzzi-Brille. Aber nur hier. Ansonsten passt alles. Großen Anteil daran haben nicht nur die vorbildlich harmonierenden Einheiten aus Fahrwerk und Motor, sondern auch die geballte Ladung an Elektronik, die beides beflügelt. Neben dem eigenständig arbeitenden Fahrwerk glänzt das Ride-by-Wire-System und vor allem die kurvenabhängige Kombi aus ABS und Traktionskontrolle. Ja, richtig gelesen. Denn dieses Motorrad ist topmodern bis hin zu Kurvenlicht, Griffheizung, elektrisch einstellbarem Windschild und Smartphone-Anbindung. Auch und gerade als Moto Guzzi.

 

Und sogar eine Weltneuheit im Motorradbereich bieten die Guzzisti: Flaps. Auf den Seitenteilen der Frontverkleidung befinden sich Klappen, die je nach Geschwindigkeit und gewähltem Fahrmodus aus- oder vielmehr aufklappen und so etwas Winddruck vom Piloten fernhalten.

Fazit: Wieviel Moto Guzzi steckt denn nun in der V100? Meiner Meinung nach 100 Prozent. Man hat es einmal mehr geschafft, die Essenz eines Motorrades und des Fahrens an sich hervorragend herauszuarbeiten und umzusetzen. Vor 50 Jahren in der Le Mans und heute in der V100. Tradition im besten Sinne wurde zu einer herausragenden Fahrmaschinen dieser Zeit. Molto bene.

 


Text: Matthias Hepper